Sonntag, 21. September 2008

Kapitel 21: Die Truhe

Gespannt machten sich beide auf, um auf den Dachboden zu klettern. Wie sich herausstellte war schon seit Ewigkeiten niemand mehr dort oben gewesen. Die alte, morsche Holzleiter war schon ganz verstaubt. Als die beiden Frauen sie mühsam angeschleppt hatten und parat gestellt hatten, bemerkten sie schon das erste Problem. Da schon so lange niemand mehr auf dem Dachboden gewesen war, schienen die Scharniere eingerostet zu sein. Denn weder Auguste noch Maria konnten aus eigener Kraft die Lucke aufschieben. Zusammen konnten sie nicht drücken, denn jemand musste die Leiter halten. Da sah Auguste, dass Harry ihnen aus einer Ecke amüsiert zuschaute. Sie winkte ihm möglich unauffällig, so dass Maria es nicht merken sollte und sagte zu Maria, dass sie es noch einmal versuchen wollte. Und tatsächlich, mit Harrys Hilfe gelang es. Maria staunte nicht schlecht, dass dieses kleine Mädchen mehr Kraft besass, als sie selbst, begründete es dann aber mit der harten Landarbeit, die dieses Kind wohl zuhause verrichten musste. Etwas zögerlich folgte sie Auguste und Harry, von dem sie allerdings nicht wusste, dass er auch dort oben war.

Oben angekommen suchte Maria alles gründlich durch. Aber in dem dämmrigen Licht und unter all den Staubschichten und Spinnennetzen war beim besten Willen nichts zu erkennen. Und Maria hatte auch gar keine Lust, den Dingen zu Nahe zukommen. Wer weiss, vielleicht versteckte sich unter irgedeiner Kiste noch eine Maus oder gar eine Ratte. Und überall waren Spinnen. Diese mochte sie auch nicht. Auguste machte das ganze nichts aus. Für sie war es ein Abenteuer. Sie liebte es fremde Dachböden zu durchstöbern, da sich dort oft unverhofte Schätze finden liessen. Sie packte daher viel beherzter als Maria zu und räumte Kiste um Kiste weg, schob Möbel herum und hob Leintücher, welche Dinge verhängten. Doch auch ihr gelang es nicht, die Truhe von Marias Oma ausfindig zu machen. Nachdem die drei etwa 2 Stunden gesucht hatten, beschlossen sie erschöpft, die Suche abzubrechen. Auguste musste noch für die morgige Reise packen und alle würden früh aufstehen müssen, weshalb es gut wäre, nicht allzu spät ins Bett zu kommen. Also verliessen sie den Dachboden, verschlossen ihn wieder sorgfälltig und machten sich parat für's Bett. Maria war ein wenig traurig. Gerne hätte sie ihrer neu gewonnnen Freundin zum Abschied noch eine Freude bereitet. Aber anscheinend war die Truhe nicht mehr auf dem Dachboden. Wo sie wohl sein mochte?

Auguste ging in ihr Zimmer, packte und legte sich ins Bett. Maria schaute noch einmal herein, ob alles in Ordnung sei. Als sie gegangen war, rief Auguste nach Harry. "Harry, weisst Du, morgen werde ich abreisen. Möchtest Du mit mir kommen?" Harry lugte zweifelnd unter dem Bett hervor. "Was soll ich denn mit Dir mitkommen? Gibt es bei euch auch Meinesgleichen? Oder soll ich dann ganz alleine hausen? Jetzt wohne ich zwar auch alleine, aber ab und zu treffe ich Freunde auf einen Drink in einer Kneipe. Das kann ich bei euch ja wohl kaum." Auguste gestand ihm, dass sie gar nicht wusste, ob es nicht vielleicht noch andere Wichtel in ihrem Dorf gäbe. Aber falls nicht, so würde sie sich bestimmt um ihn kümmern und Olaf sei ja auch noch da. "Ja, aber mit Olaf kann ich mich ja nicht verständigen. Der spricht ja eine andere Sprache!" Darauf meinte Auguste, dass das schon irgendwie gehen würde. Und Harry meinte, dass er sich das ganze bis morgen früh nocheinmal durch den Kopf gehen lassen müsste.

Schon wollte er Auguste gute Nacht wünschen, als ihm nocheinmal einfiel, dass er eigentlich hatte fragen wollen, nach was die beiden vorher auf dem Dachboden gesucht hatten. Auguste erzählte ihm von der Truhe. Harry staunte sie an, tauchte unters Bett und stand eine Minute später mit einer kleinen silbernen Truhe wieder vor Auguste. "Meinst du diese?" Auguste wusste nicht, ob es die gesuchte Truhe war, denn Maria hatte nicht erzählt, wie sie ausgesehen hatte. Harry überlegte kurz und meinte dann, dass er Auguste den Inhalt jetzt nicht zeigen wolle. Aber falls er morgen mitreisen würde, so nähme er die Truhe auf jeden Fall mit, denn die Oma hätte sie nicht Maria sondern ihm vermacht.

Vor lauter Neugierde konnte Auguste fast nicht einschlafen. Doch irgendwann war sie wohl doch eingedämmert, denn plötzlich war es Morgen und eine grosse Eile war angesagt. Maria kam herein, half Auguste sich fertig zu machen, schnappte den Koffer und los ging es. Auguste hatte gar keine Zeit mehr, Harry zu fragen, ob er jetzt mit komme. Und es blieb auch keine Zeit, sich von ihm zu verabschieden. Eigentlich wollte sie so das Haus nicht verlassen, aber sie hatte gar keine andere Wahl.

Zusammen mit Maria holten sie Opa ab und fuhren zum Bahnhof. Dort angekommen, fuhr schon der Zug nach Breslau ein. Mit Tränen verabschiedeten sich alle und los ging die Reise. Als der Zug den Bahnhof verliess winkte Auguste noch lange aus dem Fenster. Und auch Maria stand mit erhobenem Arm auf dem Peron und schaute dem Zug sehnsüchtig nach. Würden sie sich wohl je wieder sehen? Und wenn, wie würde das werden? Auguste heulte wie ein Schlosshund. Es war so eine schöne Zeit gewesen. Wahrscheinlich würde sie Maria nie mehr sehen! Und sicher würde sie nie mehr bei Maria wohnen können. Und Harry, ja den würde sie wohl auch nie mehr zu Gesicht bekommen. Denn er war bestimmt sauer, dass sie sich gar nicht von ihm verabschiedet hatte.

Opa versuchte Augustchen so gut es ging zu trösten. Der Zug war nicht sehr voll und die beiden hatten zum Glück ein eigenes Abteil ergattern können. Deshalb getraute sich Augstea auch, Opa von Harry zu erzählen. Opa hörte ihr mit grossen Augen zu und fragte Auguste dann, ob sie denke, dass er Harry sehen könne. Auguste wusste es nicht. Aber es tat ihr gut, dass Opa ihr glaubte und sie nicht für verrückt erklärte. Darum hatte sie es ihm auch erzählt, denn er hatte ihr schon einmal geglaubt, als sie von Olaf erzählt hatte. Als sie sich etwas beruhigt hatte, fragte sie Opa, warum er eigentlich an all diese seltsamen Geschöpfe glaubte, die sie immer wieder antraf. Und da fing Opa an zu erzählen.

"Weisst Du Augustchen, als ich noch ein kleiner Junge war, da erzählte mir meine Uroma, dass als ihre Oma noch gelebt hatte, die Welt nicht nur von Menschen, Tieren und Pflanzen bewohnt gewesen war, sondern noch von allerlei anderen Gestalten. Es gab Geschöpfe mit magischen Fähigkeiten, Geschöpfe die unsichtbar waren, Geschöpfe die riesig oder unglaublich kleinwaren und vieles mehr. Sie erzählte so lebhaft von einer wunderbaren Welt, die die Menschen heute nicht mehr wahrnehmen können, dass ich das ganze vor mir sah. Ich hatte Bilder von Elfen, Trollen und Wichteln aber auch von bösen Zauberern und Drachen vor meinen Augen. Meine Uroma meinte, dass sie selbst nur ein einziges Mal einem Wichtel begegnet sei, aber sie hätte nicht die Chance gehabt mit ihm zu reden. Doch sie beschrieb ihn so genau, dass ich genau wusste, wie er ausgesehen haben musste. Und dann begann ich an diese Welt zu glauben, konnte sie aber nie selbst erleben oder spüren. Daher finde ich es so wundervoll, dass ich durch Deine Augen wieder in diese Welt meiner Kindheitsträume eintauchen kann. Ach wie hätte ich mir gewünscht, dass die Geschichten meiner Uroma wahr waren, aber alle anderen Erwachsenen redeten mir ein, dass ich Uroma nicht glauben sollte, denn sie sei schon etwas alt und nicht mehr so ganz bei Sinnen. Ich konnte also niemanden mehr von dieser Welt erzählen, ohne Gefahr zu laufen, dass sie mich für Verrückt hieltn. Und nun hast Du meine kleine Auguste Uromas Fähigkeiten geerbt und kannst auch in diese Welt eintauchen. So beweisst Du mir auch gleichzeitig, dass Uroma nicht geistig umnachtet war, wie alle meinten, sondern noch ganz klar bei Verstand. Nur hatte sie eine Begabung, die niemand der anderen Nachfühlen konnte."

Aufmerksam hatte Auguste zugehört. Hatte sie wirklich eine spezielle Begabung? Sie hatte sich eigentlich noch nie überlegt, von wem sie Abstammte und was ihre Ahnen wohl alles gekonnt hatten. Aber nun plötzlich fand sie es extrem spannend und hätte gerne mehr über ihre Vorfahren erfahren. Nicht nur über die Uroma, sondern über alle einzelnen. Was hatten die wohl alle für Fähigkeiten und Begabungen gehabt? Was hatte sie davon wohl alles geerbt oder nicht geerbt? Mit einem Schlag wurde ihr bewusst, wie wichtig es eigentlich war zu wissen, von wem man abstammte. Klar, die Herkunft gab keine Auskunft über die eigene Persönlichkeit. Denn offensichtlich besassen ihre Schwestern nicht die Begabung in eine andere Welt eintauchen zu können. Aber die Herkunft liess einen wenigstens erahnen, nach was für einer Art Talente man Aussichthalten sollte.

Das gleichmässig Rattern des Zuges liess sie müde werden. An Opa gelehnt fühlte sie sich sicher und geborgen und dachte über ihre Vergangenheit und das Leben und die Welt nach. Und gab es wohl wirklich eine Welt, die nicht alle wahrnehmen konnten?

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