Sonntag, 28. September 2008

Kapitel 22: nette Reisebegleitung

Doch lange konnte Auguste nicht dösen. Denn wenige Augenblicke später räusperte sich jemand sehr stark. Zuerst wollte sie dem Räuspern keine Beachtung schenken, da sie dachte, dass es ihr Opa sei. Doch irgendetwas am Räuspern war seltsam. Vorsichtig öffnete sie die Augen und stiess beinahe einen Freudenschrei aus. Auf dem Sitz neben ihr sass Harry und lächelte sie verschmitzt an. "Na, damit hättest Du wohl nicht gerechnet, oder?" fragte er. Sie antwortete ehrlich und beichtete ihm, dass sie schon gedacht hatte, dass sie ihn wohl nie wieder sehen würde. Bei dem Trubel heute morgen, hatte sie einfach keine Zeit gefunden, nach ihm zu sehen. Harry hatte ihr längst verziehen. Er hatte sich in der Nacht überlegt, dass so eine Reise seinem Leben etwas Spannung verleihen könnte. Und wenn es ihm in Masuren nicht gefallen sollte, so konnte er einfach zurückreisen. Die meisten Menschen konnten ihn ja nicht sehen. Deshalb konnte er unbemerkt in jeden Zug hüpfen und mitfahren.

Durch die Unterhaltung der beiden war Opa aufmerksam geworden. Und oh Wunder, er konnte Harry auch sehen. Er war darüber sehr verwundert. Ein Weilchen beobachtete er die beiden still. Doch dann gewahrte er, dass sich auf dem Korridor der Kontrolleur näherte. Er machte Auguste und Harry darauf aufmerksam, dass es nicht so ratsam sei, den Zugschaffner auf ein unsichtbares Wesen aufmerksam zu machen. Beide verstummten sofort. Dann wendete sich Auguste Opa zu und fragte ihn erstaunt, ob er denn Harry sehen könnte. Opa nickte. Nun war auch Harry überrascht. Jahrelang hatte ihn niemand sehen können und jetzt sass er gleich mit zwei Menschen im Abteil, vor denen er sich nicht verstecken konnte.

Als der Kontrolleur weitergegangen war unterhielten sich die drei prächtig. Sie assen die Mitgebrachten Brote und Äpfel und genossen die Reise sichtlich. Die Zeit verging wie im Flug und bald kam der Zug in Breslau, ihrem vorläufigen Zwischenziel, an. Auch Breslau war eine riesige und wundervolle Stadt. Doch Auguste war mittlerweile von grossen Häusern nicht mehr so phasziniert, wie sie es noch am Anfang ihrer Reise in Olsztyn gewesen war. Sie dachte zurück. Es waren nur wenige Wochen vergangen, seit sie mit Opa von ihrem Dorf aufgebrochen waren. Doch Auguste kam es vor, als sei sie schon Jahre unterwegs. Sie fühlte sich auch um einiges erfahrener und klüger. Eine Grossstadt wie Breslau machte ihr keine Angst mehr. Als sie in Berlin angekommen waren, war sie froh gewesen, dass Opa alles organisierte. Nun war Opa noch nicht vollständig von seiner Augenoperation genesen. Deshalb übernahm sie die Führung. Und sie war richtig stolz auf sich, dass sie so rational vorgehen konnte. Sie schritt auf dem Vorplatz zur nächsten Kutsche und erklärte dem Kutscher, dass sie ein billiges Hotel in der Nähe der Universität suchten. Sie verhandelte mit ihm einen Fahrpreis, holte Opa, Harry und das Gepäck und los ging die Kutschenfahrt. Unterwegs sahen sie noch einige Sehenswürdigkeiten. Der Hauptbahnhof, an dem sie angekommen waren, lag etwas ausserhalb des Stadtzentrums. Breslau war mit seinen halben Million Einwohner für Auguste riesig. Und sie genoss es, dass der Kutscher noch ein wenig in der Stadt herumfuhr. So konnten sie die Domkirche, das alte Rathaus mit dem eindrücklichen Giebel und vieles mehr sehen. Auch and der Universität, die wie der Kutscher Auguste erzählte 1702 gegründet worden war. Es war ein herrlicher, riesiger Prachtsbau. Noch während alle dem Gebäude nachstaunten, hielt die Kutsche vor einem kleinen Hotel. Zufrieden stiegen aller herab und begaben sich an die Rezeption. Sie hatten Glück und es war gerade noch ein Zimmer frei.

Nachdem sie sich eingerichtet hatten, beschlossen sie, heute nicht mehr viel zu unternehmen, sondern einfach noch Abendbrot essen zu gehen. Morgen sei auch noch ein Tag und dann könne man den Professor suchen gehen. Es sei sowieso nicht sicher, dass er sie empfangen würde, hatte er doch nie auf das Telegram geantwortet.

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