Montag, 2. Februar 2009

Kapitel 26: Warten bis zum Sonnenuntergang

Sobald Auguste es geschafft hatte, sich in ihr Zimmer zurückzuziehen, half sie Harry, sich eine Ecke unter ihrem Bett so wohnlich wie möglich einzurichten. Das ganze musste sehr schnell gehen. Auguste hatte hier kein eigenes Zimmer, sondern teilte es mit ihren grossen Schwestern. Eine von ihnen konnte jederzeit hereinplatzen. Jedesmal wenn sie Schritte auf der Treppe hörte, blieb beiden der Atem stehen, Auguste sprang in windeseile ins Bett und Harry machte einen Köpfler unter das Bett. Als sie diese Übung das dritte Mal durchgezogen hatten, konnte sich Auguste vor lachen kaum noch halten. "Sag mal Harry, warum machst Du das eigentlich? Morgen wirst Du viele blaue Flecken haben. Die anderen können Dich doch sowieso nicht sehen! Du könntest genausogut mitten im Raum stehen, wenn eine meiner Schwestern die Tür öffnen würde, sie hätten keine Ahnung, dass Du vor ihnen stehst." Harry schaute Auguste verdutzt an. Daran hatte er gar nicht gedacht und nun schämte er sich, dass er sich vor dem kleinen Mädchen so blamiert hatte, dass sie schallend über ihn lachte.

Schnell vergass er die Peinlichkeiten und stürzte sich eifrig in die Arbeit. Denn schliesslich ging es ja um sein neues Zuhause. Nach etwa einer halben Stunde mit Unterbrüchen hatten sie es geschafft. Auguste fiel erschöpft ins Bett und Harry verkroch sich in seinem Schlupfwinkel. Und kaum lagen beide, da schliefen sie auch schon fest. So fest, dass keiner von ihnen gewahrte, dass sie diese Nacht mehrmals Besuch erhielten.

Der erste Besuch war Augustes Mutter. Nachdem sie ihre Jüngste so lange nicht mehr gesehen hatte, wollte sie einfach nocheinmal nach ihr schauen. Leise schlich sie ans Bett, strich ihrer schlafenden Tochter über die Haare und staunte darüber, wie sich das Mädchen über den Sommer verändert hatte. Aber sie war auch stolz auf ihre Tochter. Dieses kleine Mädchen war schon weiter in der Welt herumgekommen, als die eigene Mutter. Bevor Auguste ins Bett gegangen war, hatte sie allen wie ein Wasserfall von der Reise und den vielen Erlebnissen Berichtet. Sie hatte auch erwähnt, dass sie wie die kluge Frau, bei der sie hatte wohnen dürfen, studieren wollte. Der Vater hatte natürlich sofort die Nase gerümpft. Er war Bauer und seine Töchter sollten auch einmal Bauern heiraten. Geld für ein Studium war nicht vorhanden. Die Mutter hatte ihm beigepflichtet, doch wie sie jetzt ihre Tochter betrachtete, nahm sie sich vor, alles zu unternehmen, ihrer Tochter ein Studium zu finanzieren, sollte sie in der Schule gute Leistungen erbringen. Sie wusste, dass es schwer werden würde, aber sie selbst hatte nie Bäuerin werden wollen. So wollte sie versuchen, wenigstens ihrer jüngsten Tochter zu ermöglichen ein Leben zu führen, wie sie es sich wünschte. Sie stellte sich vor, wie schlimm es wohl für Augustchen sein würde, wenn sie ihr Lebenlang in dem kleinen Dorf verbringen müsste, nachdem sie jetzt schon so viel von der Welt gesehen hatte! Nein, sie wollte, dass ihre Tochter eine Weltenbürgerin würde. Vielleicht würde sie so auch einen reichen, intelligenten Mann finden und ein glückliches Leben ohne viel Arbeit un Mühe führen können.

Nachdem die Mutter so nachgedacht hatte, verliess sie schweren Herzens das Zimmer. Was würde wohl das Leben ihrer Tochter in Zukunft bringen? Würde sie glücklich werden? Sie war so ganz anders, als die zwei grossen Schwestern. Und klug! Sie schien klüger zu sein, als ihre Schwestern. Gedankenverloren stieg die Mutter die Treppe hinunter und ging ebenfalls schlafen.

Kurze Zeit später kamen die zwei grossen Schwestern und gingen ebenfalls ins Bett. Sie waren ein wenig neidisch, dass ihre kleine Schwester nicht hatte bei der Heuernte helfen müssen und stattdessen so viel erlebt hatte. Doch sie waren auch froh, dass Auguste wieder hier war. Denn ohne den kleinen Zwirbel war es ihnen manchmal etwas langweilig geworden.

Kaum waren auch die Schwestern eingeschlafen, huschte ein Schatten durchs Fenster. Hätten die Schwestern ihn wahrgenommen, sie hätten geglaubt sich zu täuschen. Eine seltsame dunkle Figur näherte sich Augustes Bett, legte einen Brief unter ihr Kopfkissen und entfernte sich wieder. Nach weniger als zwei Sekunden war alles vorüber und man hätte meinen können, es sei nie passiert.

Am nächsten Morgen wurde Auguste durch das kitzeln der Sonne auf der Nase wach. Sie schlug die Augen auf und wusste im ersten Moment nicht, wo sie war. Wie roch es denn hier? So nach Kühen und Pferden? Wieso summten hier so viele Fliegen herum? Was war das für ein Lärm da draussen? Verwirrt richtete sie sich auf. Und dann viel ihr alles wieder ein. Sie war wieder zuhause, nicht mehr in einer anderen Stadt! Schnell wie der Blitz zog sie sich eines ihrer alten Arbeitskleider an und sprang die Treppe hinunter in die Küche, wo für sie ein Frühstück parat stand. Ausser Opa waren alle schon an der Arbeit. Alleine wollte sie nicht essen, also hüpfte sie nocheinmal die Treppen hinauf und weckte ihren Opa. Gemeinsam frühstückten sie und besprachen die vergangen Wochen und die Zukunft. Es wurde Auguste schmerzlich bewusst, dass sie spätestens morgen wieder zur Schule gehen müsste. Und darauf hatte sie nun also gar keine Lust! Sie hatte sich er viel Unterrichtsstoff verpasst und würde nun alles mühsam nachholen müssen. Opa versprach ihr dabei zu helfen. Er übernahm es auch Harry etwas zu Essen hochzubringen. Denn Auguste zog es hinaus in den Garten, auf die Felder und natürlich zum Wäldchen, wo sie sich zuletzt mit Olaf getroffen hatte. Freudig singend schlenderte sie durch die Vertraute Landschaft. Ja, nun war sie wieder zuhause, hier kannte sie jeden Stein, jeden Baum, jedes Haus.

Nachdem sie eine Weile wild herumgetollt war, nahm sie ihren Mut zusammen und ging zu Olafs Haus. Doch wie gross war die Enttäuschtung. Das Haus war leer und es schien, als sei es ein wenig zerfallen. "Das heisst, dass Olaf und seine Frau den Ort schon vor geraumer Zeit verlassen haben! Hoffentlich sind sie nicht weggezogen!" dachte Auguste bestürzt. Traurig wanderte sie nach Hause. Dort ging sie in ihr Zimmer, um nach Harry ausschau zu halten. Wenigstens einen Freund hatte sie noch, wenn Olaf sie schon im Stich gelassen hatte.

Harry war zuhause schon dabei den Brief zu entziffern, der in der Nacht vobreigebracht worden war. Es war in Olafs Sprache geschrieben. Doch Auguste und Harry schafften es, ihn mit Hilfe der Unterlagen aus Breslau zu entziffern. Die Freude Augustes war gross. Olaf hatte ihre einen Brief geschrieben. Er teilte ihr mit, dass er noch in der Gegend wohnte, aber das Haus hatte verlassen müssen, da ihn jemand bedroht hatte. Den neuen Aufenthaltsort konnte er nicht aufschreiben und auch keinen Treffpunkt abmachen, da er befürchte, dass dieser Brief vielleicht in falsche Hände geraten würde. Aber er würde alles Menschenmögliche und etwas mehr tun, damit sie sich wieder treffen könnten.

Harry und Auguste warteten beide gespannt den ganzen Nachmittag im Hof. Sie erwarteten, dass Olaf jeden Augenblick hinter irgend einer Ecke hervorlugen würde und ihnen zuwinken würde. Doch die Sonne stieg höher und wieder tiefer und die gute Laune von Auguste und Harry machte die gleiche Bewegung. Sie wurden immer ungeduldiger, getrauten sich aber nicht, ins Haus zu gehen, da sie annahmen, dass Olaf sie sonst nicht kontaktieren könnte. Also warteten sie weiter und verkürzten sich die Zeit mit Rätselspielen.

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